Ethik-Tag der 2. Oberstufe
Es ist der Tag vor ihrem 20. Geburtstag: Jordi ist als Beifahrerin irgendwo auf einer Schweizer Pass-Strasse unterwegs, als der Fahrer des Motorrads in einer Kurve die Kontrolle über die Maschine verliert und stürzt. Ein harmloser Sturz, ohne gravierende Folgen. Zunächst zumindest, denn der nachfolgende Fahrer leitet eine Vollbremsung ein und springt von seinem Motorrad, um der Gefahr zu entgehen. Eine menschliche Reaktion – mit weitreichenden Folgen, denn sein Motorrad trifft die am Boden liegende junge Frau im Rücken, was zu einem Bruch der Wirbelsäule führt. Jordi merkt sofort, dass etwas nicht mehr stimmt, denn sie spürt ihre Beine nicht mehr richtig.
Mit der Rega wird sie ins Spital gebracht, und über den Umweg Basel landet sie schlussendlich im Schweizerischen Paraplegikerzentrum in Nottwil, wo für sie eine mehrmonatige Rehabilitätsphase beginnt. Auf einen Schlag ändert sich ihr komplettes Leben und vieles muss neu gelernt werden. Und sie muss sich mit dem Gedanken abfinden, nie wieder laufen zu können und den Rest des Lebens im Rollstuhl zu verbringen.
Passiert ist die Geschichte vor etwas mehr als 30 Jahren, und noch immer ist Jordi im SPZ in Nottwil – allerdings nicht mehr als Patientin, sondern in erster Linie als Peer, die mit ihrer Erfahrung und ihrem Wissen Leute, die in die gleiche oder eine ähnliche Situation geraten sind, in der ersten Phase begleitet, ihnen mit Rat zur Seite steht und sie unterstützt.
Und an diesem Dienstagmorgen, 2. Mai erzählte sie (zusammen mit zwei weiteren Peers) den gut 60 Schülerinnen und Schüler der zweiten Oberstufe aus ihrem Leben, zeigte ihnen auf, welche besonderen Herausforderungen auf Personen im Rollstuhl zukommen und mit welchen Schwierigkeiten sie zu kämpfen haben – oftmals Sachen, über die wir „Fussgänger“ gar nicht gross nachdenken müssen. So muss beispielsweise oftmals das Erledigen des kleinen und grossen Geschäfts mit der Uhr geregelt werden, da sie Darm und Blase nicht mehr spüren…
In der Regel verbringt ein Patient unmittelbar nach dem Unfall neun bis zwölf Monate in Nottwil, und die Schweizer Paraplegiker-Gruppe in Nottwil bietet ihnen dabei vor allem in der ersten Zeit das perfekte Umfeld – hier befindet sich alles unter einem Dach: Spital, Pflegezimmer, Übungswohnung sowie Hotelzimmer für Angehörige. Aber auch Anlauf- und Beratungsstellen, wenn es etwa um rechtliche Fragen, den Umbau der eigenen Wohnräume oder Unterstützung in finanziellen Fragen geht. Das Ziel dabei ist eine möglichst gleichberechtigte und chancengleiche Wiedereingliederung ins Leben (Arbeit, Familie und Gesellschaft). Keine Selbstverständlichkeit, wenn man bedenkt, dass Querschnittsgelähmte noch zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs kaum eine Überlebenschance hatten…
Nach einer Führung durch das Haus durften die Jugendlichen zum Schluss in der sogenannten „Ausstellung“ – einer fiktiven Rollstuhl-WG – das Leben im Rollstuhl selbst ausprobieren und sich für eine kurze Zeit in die Situation eines Rollstuhlfahrers versetzen. Sie kurvten im Rollstuhl durch Küche, Badezimmer oder Büro, konnten sehen, wie die Bewohner ihren Tag organisieren müssen und staunten über die tiefergelegte Küchenzeile. Eine sehr eindrückliche und nachdenklich stimmende Erfahrung!
Dieser Ethik-Tag fand im Rahmen des ERG-Unterrichts (Ethik, Religion und Gemeinschaft) statt und war nur möglich, dank der grossen finanziellen Unterstützung der katholischen Kirchgemeinde Zell!
Text und Bilder:
Michael Bieri, Norbert Suppiger, Peter Flückiger